Überleben in Deutschland

Es mangelt in Deutschland nicht an Bekenntnissen zu jüdischem Leben und zur Ablehnung von Antisemitismus. Immer wieder freilich wird auch deutlich, daß es sich dabei oft um Lippenbekenntnisse handelt. Geht es um ganz konkrete antisemitische Vorfälle, scheint etwa die deutsche Justiz die Beschäftigung mit dem »ältesten Haß der Welt« nicht eben zu suchen, sondern sie eher zu vermeiden.

Da werden die antisemitischen Motive für einen Brandanschlag auf eine Synagoge verneint, werden antisemitische Sprechchöre zu einer »Kritik an der Politik der israelischen Regierung« umgedeutet. Und erst in diesen Tagen, in denen ein »Festjahr« beginnt, in dem die »lange und reichhaltige Tradition jüdischer Kultur in Deutschland« gefeiert werden soll, sorgen neue Entscheidungen für Kopfschütteln.

Nach einer »Demonstration« von Anhängern der Partei »Die Rechte« im letzten November in Braunschweig stellte die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen Volksverhetzung ein, weil »die Begriffe ›Juden‹ und ›Judenpresse‹«, mit denen Teilnehmer des Aufmarschs Journalisten gewiß nur freundlich grüßen wollten, »per se nicht strafbar« seien und von ihnen daher die »konkrete Drohung« fehle.

In Hamburg hält derweil die dortige Staatsanwaltschaft einen Angreifer für »schuldunfähig«, der im Oktober 2020 vor der Synagoge der Hanse-Stadt einen als Jude erkennbaren Besucher mit einer Axt attackierte und verletzte. »Aufgrund der psychischen Erkrankung des Beschuldigten« sei es, so Oberstaatsanwältin Nana Frombach, auch gar »nicht möglich, ein Motiv im klassischen Sinne festzustellen«.

Selbst wenn es sich bei diesen und noch ungezählten weiteren Fällen um je spezielle und einzelne handeln mag, muß die Bereitschaft erschrecken, über Antisemitismus hinwegzugehen, ihn zu verharmlosen oder gar zu rechtfertigen. 1.700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland sind doch eher 1.700 Jahre jüdischen Überlebens in einem Land, das wenig Anlaß hat, auf seinen Anteil daran stolz zu sein.