Schlagwort: Autoritarismus

Schrecklich europäische Familie

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat sich vom Parlament in Budapest ermächtigen lassen, das Land weitgehend per Dekret zu regieren. Mit dem unbefristeten Notstandsgesetz kann der Regierungschef das Parlament umgehen, das freilich ohnehin von seiner Fidesz-Partei, dominiert wird – von 199 Parlamentariern gehören 116 der Fidesz und 17 der mit ihr koalierenden KDNP an.

Nachdem dem Ermächtigungsgesetz in einer ersten Abstimmung am vorvergangenen Montag mit 137 Ja-Stimmen (72%) die in dieser Runde notwendige Mehrheit von 80 Prozent der anwesenden Mandatsträger noch gefehlt hatte, konnte es an diesem Montag die jetzt nötige Zustimmung von zwei Dritteln der Abgeordneten locker erreichen, die das Parlament damit praktisch entmachtet haben.

Mit dem Gesetz wurde eine Regel aufgehoben, nach der die Parlamentarier eine von der Regierung festgestellte »Gefahrensituation“ nach 15 Tagen bestätigen mußten. In diesem »Notstand« kann die Regierung »außergewöhnliche Maßnahmen« anordnen, »um die Stabilität des Lebens, der Gesundheit, der persönlichen und materiellen Sicherheit der Bürger und der Wirtschaft zu garantieren«.

Zu diesen Maßnahmen zählen auch Änderungen am Strafrecht, um Haftstrafen für Verstöße gegen Quarantäne-Regelungen oder gegen die Verbreitung »falscher« Informationen zu verhängen. Die ungarische Opposition sieht mit dem Ermächtigungsgesetz rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien ausgehöhlt, Einschätzungen, die wohl auch in weiten Teilen der EU und Deutschland geteilt werden.

Auf europäischer Ebene fragen sich denn auch mehr und mehr Mitgliedsverbände der Europäischen Volkspartei (EVP), ob es nicht Zeit wäre, die Fidesz, die Partei Viktor Orbáns, ob ihrer demokratie- und rechtsstaatsfeindlichen Politik aus ihrem Verbund auszuschließen. Dreizehn Mitgliedsparteien, die schon vor einem Jahr den Fidesz-Ausschluß verlangt hatten, haben deshalb jetzt ihre Forderung bekräftigt.

Gehörten schon damals, als es um eine antisemitische Kampagne der Fidesz zur Wahl des Europäischen Parlaments ging, die deutschen Unionsparteien nicht zu den Unterstützern eines Ausschlusses der Fidesz, halten sie sich auch jetzt wieder auffällig zurück. Während die Regierung in Berlin, an der sie nicht unwesentlich beteiligt sind, sich immerhin besorgt gibt, scheuen sie vor Konsequenzen zurück.

Einmal mehr blamieren die deutschen Unionsparteien sich mit ihrem lauten Schweigen als rückgratlose Vereine. Ob es um Antisemitismus geht, um Grundrechte wie die Freiheit der Wissenschaft oder nun um Rechtsstaat und Demokratie, CDU und CSU erweisen sich als unwillig oder unfähig, für sie zu streiten. Mit ihrem fortgesetzten (Nicht-)Verhalten gegenüber Fidesz und Viktor Orbán machen sie sich lächerlich.

Linke Sehnsucht

In der jüngsten Ausgabe des Berliner Wochenblatts Jungle World beschwert sich eine Maria Wöhr über, wie sie meint, »abstruseste linke Reaktionen zur Covid-19-Pandemie«: »Statt das zögerliche staatliche Handeln in Europa zu kritisieren«, kommt die Autorin schnell zur Sache, würden »relevante Teile der linken Szene [..] sich lieber über die ergriffenen Eindämmungsmaßnahmen« beklagen.

Und das geschehe selbst »im zögerlich agierenden Deutschland«, wo der Autorin die ganz und gar unterschiedlichen Jakob Augstein und Clemens Heni unangenehm auffielen. Der eine fragte, »lässt sich der Schutz der Wenigen wirklich nicht ohne Einsperren der Vielen gewährleisten«, der andere »behauptet, die Demokratie und nicht etwa das Gesundheitssystem stehe kurz vor dem Kollaps«:

»Schon jetzt wissen die extremen Rechten wie autoritären Linken, dass es von heute auf morgen möglich ist, alle Theater zu schließen, Demonstrationen zu verbieten, das Asylrecht auszusetzen (also grundgesetzwidrig zu handeln) und Menschen zu Hause einzusperren und nur zum Einkaufen unter Polizeischutz raus zu lassen.«

Die Welt zitierte kürzlich eine repräsentative Umfrage, nach der »fast zwei Drittel der Deutschen [..] bereits mit einer Verschärfung der Einschränkungen« rechnen. »32 Prozent wünschen sich das sogar«. Mindestens jeder dritte Deutsche also sehnt sich offenbar einen Staat herbei, der ihn (oder sie) noch mehr in seinen (oder ihren) Rechten einschränkt, ihn (oder sie) entmündigt, bevormundet.

Eine dieser Deutschen ohne Zweifel ist Maria Wöhr, die sich tatsächlich in einem »zögerlich agierenden Deutschland« wähnt, sich Kritik am »zögerliche[n] staatliche[n] Handeln in Europa« und also weniger zimperliches staatliches Handeln herbeisehnt, Politiker mithin, die »Führung zeigen, statt zu zaudern«, wie vor beinahe einer Woche ein Kommentar des Deutschlandfunks formulierte.

Für Maria Wöhr ist dieses »Führung zeigen« heute »ein Gebot von Vernunft und Solidarität« ebenso wie das blinde (Be-)Folgen. Geht es wenigen schlecht, so soll, nein: muß der Staat dafür sorgen, daß es allen schlecht geht. Und von richtigen Linken erwartet die Autorin, daß sie den Staat dabei noch anfeuern. Bemerkenswert, wie tief eine Zeitung, die einst »Fanta statt Fatwa!« forderte, sinken kann.