Schlagwort: Querfront
Die Verantwortung der Mitläufer
Nachdem es einer dilettantisch agierenden Exekutive zuletzt noch gelungen war, ihr zweifellos einigen Zulauf zu bescheren, fand in der deutschen Hauptstadt am Samstag eine weitere jener »Großdemonstration« statt, die sich gegen die »Corona-Politik« der Regierung in Berlin richten sollen, tatsächlich jedoch nur schlecht getarnte Querfront-Aufmärsche sind, deren Erfolg freilich sorgen muß.
Wie bereits zum Monatsanfang marschierten Menschen, die sich wohl als im besten Sinn »normal« bezeichnen würden, einhellig mit und neben Gestalten durch Berlin, deren Weltbild die Demokratie verachtet und bedroht, spendeten Rednern Applaus, die antisemitische Verschwörungstheorien sponnen, und boten schließlich die Kulisse für einen rechtsextremen Sturm auf das deutsche Parlament.
Natürlich, unter den nach amtlichen Angaben 38.000 Teilnehmern der Aufmärsche in Berlin waren gewiß relativ wenige bekennende (Neo-)Nazis, doch wie schon nach der »Demonstration« vor vier Wochen muß sich die Mehrheit der Protestierenden die Frage gefallen lassen, weshalb sie die nicht ausgrenzten oder anders sanktionierten, die um ihre barbarische Gesinnung kein Geheimnis machten.
Wie kommt es, daß Menschen, die »Lügenmedien« verachten und sich etwas einbilden auf ihren alternativen Informationsvorsprung, nicht merken, wem sie nachlaufen, wem sie ein Podium bieten, wen sie bejubeln? Sie sind der Nährboden für die Feinde der Demokratie, ihre Komplizen. Und damit diskreditieren sie sich und ihr womöglich sogar berechtigtes Anliegen, denn sie wissen, was sie tun.
Verfallserscheinungen
Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat sich am Wochenende kritisch über Demonstrationen geäußert, mit denen seit einiger Zeit gegen das Vorgehen der Regierung in Berlin gegen die Verbreitung des Covid-19-Virus’ protestiert werden soll. Im Umfeld und auf solchen Aufmärsche blühten auch Verschwörungsmythen und tummelten sich nicht selten Antisemiten.
»Jeder, der an einer Demonstration teilnimmt«, erklärte Josef Schuster der Welt am Sonntag, müsse »sich anschauen, mit wem er sich gemein macht und letztlich dann auch dafür geradestehen«. In der Tat verwundert, wie »bunt« manch Protest gegen die Berliner Politik ist, erschreckt, wie sogar Menschen, die sich vermutlich selbst als Antifaschisten bezeichnen würden, ihre Teilnahme rechtfertigen.
So fand am vorvergangenen Wochenende in der deutschen Hauptstadt eine »Großdemonstration« statt, an der sich 13.000 bis 1,3 Millionen Menschen beteiligten. Sie hatten nicht das geringste Problem damit, gemeinsam mit Trägern von Reichs- und Reichskriegsflaggen zu demonstrieren, Rednern zu applaudieren, deren abenteuerliche Pamphlete selbst der einschlägige Kopp Verlag ablehnte.
Am Tag danach jedenfalls konnte man exemplarisch diese Sätze lesen:
»Ein paar Nazis waren dabei, das ist richtig. Mitunter wirkte es verstörend, hinter der Reichskriegsflagge Menschen mit Fahnen der Friedensbewegung zu sehen. Doch die waren weitaus zahlreicher als die Deutschlandfahnen, die es auch zu sehen gab. Zahlreicher auch als die Häufchen irregeleiteter Antifas, die den Demonstrierenden ihr einfallsloses ›Nazis raus‹ entgegenbrüllten.«
Da wird locker über »ein paar Nazis« hinweggegangen, die die immerhin »zahlreicher[en] [..] Menschen mit Fahnen der Friedensbewegung« weder zum nächstbesten Teufel jagen, noch dazu bewegten wollten, sich von ihren Reichsflaggen zu trennen, während gleichzeitig »Häufchen irregeleiteter [!] Antifas« herabwürdigend bescheinigt wird, ihre »Nazis raus«-Rufe seien »einfallslos« gewesen.
So sieht es aus, wenn »ein paar Nazis« verharmlost und ihre menschenverachtende Ideologie gesellschaftsfähig gemacht werden. Sie wurden und werden geduldet, statt sanktioniert oder ausgegrenzt. Und jene, die sich damit nicht abfinden, werden angegriffen und beleidigt. Josef Schuster ist für seinen Optimismus zu bewundern, glaubt er doch, die Irren seien »zum Glück weit in der Minderheit«.
Willkommener Protest
In der deutschen Hauptstadt haben am Sonnabend zahlreiche Menschen gegen das Vorgehen der Regierung in Berlin zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie protestiert. Die Angaben zur Zahl der Teilnehmer an einer Demonstration und der anschließenden Kundgebung schwanken dabei zwischen 17.000 (Polizei) und mehr als einer Million (Veranstalter), beides recht sportliche Schätzungen.
Der SPIEGEL hat dabei »eine verwirrende Mischung von Leuten« beobachtet, »die sonst nicht gemeinsam auf die Straße gehen« würden: »Da flatterten Regenbogenfahnen und Pegida-Flaggen nebeneinander. [..] Als ein Passant wegen einer Reichskriegsflagge rief: ›Ihr marschiert mit Nazis!‹, antworteten Demonstranten nur: ›Was sollen wir tun, das ist Meinungsfreiheit!‹« Nein, es ist abstoßend.
Es ist ohne Frage gerechtfertigt, allzu oft wenig überzeugend begründete politische Entscheidungen im Vorgehen gegen die Covid-19-Pandemie zu hinterfragen und die mit ihr verbundenen Einschränkungen von Grundrechten auch öffentlich zu kritisieren. Eine politische Klasse, die lagerübergreifend Gefallen findet an der autoritären Entmündigung von Untertanen, ist einer Demokratie unwürdig.
Gleichzeitig jedoch diskreditiert sich und sein Anliegen, wer die Präsenz wenig appetitlicher Gestalten und Ideologien hinnimmt, duldet, akzeptiert. Feierten Pegida-Anhänger gestern Meldungen über das Kentern von Booten während der Überfahrt, macht sich mit ihnen und ihrer Menschenverachtung gemein, wer ihnen heute nicht wenigstens die Flagge verbietet, sondern von »Meinungsfreiheit« schwafelt.
Und so hat denn auch »die Politik« leichtes Spiel, kann sich exemplarisch die SPD-Vorsitzende Saskia Esken über »Covidioten« echauffieren, statt etwa erklären zu müssen, ob die vielfältigen und zahlreichen Kollateralschäden der von ihr getragenen Politik gerechtfertigt sind oder verhältnismäßig. Der »Protest« in Berlin war so wohl das beste, was denen passieren konnte, gegen den er sich richten sollte.